Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort:Angeordneter Rückbau eines Pop-up-Radweges in Hannover: Ist Minister Althusmann tatsächlich „radverkehrsfeindlich“?

 

Vorbemerkung der Abgeordnete

Die Landeshauptstadt Hannover hat im Sommer einen sogenannten Pop-up-Radweg an der Straße am Schiffgraben ausgewiesen. Ziel und Absicht der Stadt war es zu erproben, dem Rad- und Fußgängerinnen und fußgängerverkehr mehr Raum zu gewähren, ohne damit in den fließenden Autoverkehr einzugreifen. Ein Versuch, der laut Medienberichten aus der Sicht der Polizeidirektion Hannover gelungen ist. Danach überwögen die „Vorteile für den Rad- und Fußgängerverkehr gegenüber den eher als gering einzuschätzenden Nachteilen für den Kfz-Verkehr“ (Neue Presse, 08.09.2021).
Weiter heißt es dort: „Eine Fortführung der Maßnahme wäre daher wünschenswert.“


Mit der Einrichtung des Pop-up-Radweges ist die Stadt Hannover der novellierten Straßenverkehrs-
ordnung (StVO) gefolgt: Nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO ist ein Verkehrsversuch wie am Schiff-
graben zugelassen. Eine besondere Gefährdungslage nach StVO § 45 Abs. 9 Satz 3 ist nicht erforderlich. Stattdessen greift die „Sonderregelung“ § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 7 StVO. Trotz dessen hat das niedersächsische Verkehrsministerium sechs Tage vor der niedersächsischen Kommunalwahl am 12.09.2021 gegenüber der Stadt Hannover angeordnet, den temporären Radweg am Schiffgraben zurückzubauen.


Laut Medienberichterstattung beharrt das Ministerium in seiner Begründung darauf, dass die Unfall-
lage vor Ort als gefährlich eingestuft werden müsse, um einen solchen Radweg auszuweisen. Dies aber habe die Polizei nicht getan. Die Anweisung des Ministeriums sorgt für Kritik und Verständnislosigkeit: So reagierte der ADFC Hannover „entsetzt über die radverkehrsfeindliche Haltung des Verkehrsministers Althusmann“ (Pressemitteilung ADFC 07.09.2021). Die Anordnung zeige laut ADFC Hannover, dass der Christdemokrat kein Verständnis vom Rad- und Fußverkehr habe. Die Neue Presse vermutet, dass „man in dem Haus von Minister Bernd Althusmann (CDU) lediglich von einer alten Regelung der Straßenverkehrsordnung ausgegangen“ sei (Neue Presse, 08.09.2021). „Nicht aber von einer Neuerung, die sogenannte ‚Verkehrsversuche‘ zulässt.“ Auch innerhalb der CDU verstehen Parteimitglieder nicht, wie es zu der Anordnung kommen konnte: CDU-Bezirksbürgermeisterin Cornelia Kupsch etwa befürwortet das Modellprojekt und reagiert enttäuscht (Neue Presse, 08.09.2021). Der Argumentation des Ministers könne sie nicht folgen. Laut Hannoversche Allgemeine Zeitung rieche die Anordnung des MW wenige Tage vor der Kommunalwahl nach „Wahlkampf“
(HAZ 8.9.2021).


Vorbemerkung der Landesregierung:
Pop-Up-Radwege sind straßenverkehrsrechtlich Radfahrstreifen. Ein Radfahrstreifen ist ein benut-
zungspflichtiger, mit Zeichen 237 (Radweg) gekennzeichneter und durch Zeichen 295 „durchgezo-
gene Linie“ abgetrennter Sonderweg.

Die Anordnung solcher Radfahrstreifen richtet sich nach der bundeseinheitlichen Straßenverkehrs-
Ordnung (StVO). Die Länder sowie die unteren Verkehrsbehörden sind an diese bestehenden stra-
ßenverkehrsrechtlichen Regelungen gebunden.

Die Stadt Hannover als untere Verkehrsbehörde entscheidet grundsätzlich in eigener Zuständigkeit
auf der Basis der vor Ort gewonnen Erkenntnisse, ob die Voraussetzungen für Verkehrsbeschrän-
kungen vorliegen. Dem Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitali-
sierung (MW) als oberste Verkehrsbehörde obliegt die Fachaufsicht über die unteren Verkehrsbe-
hörden. Entsprechende fachaufsichtliche Verfahren werden u. a. bei Zweifeln an der Recht- und
Zweckmäßigkeit eingeleitet.

Die Verkehrsbehörde hat für jedes Verkehrszeichen und jede Verkehrseinrichtung eine verkehrsbe-
hördliche Anordnung zu erlassen. Aus dieser Anordnung müssen insbesondere die Rechtsgrundlage und eine Begründung, warum die allgemeinen Regelungen der StVO nicht ausreichen und die entsprechende Maßnahme erforderlich ist, hervorgehen. Der mit der verkehrsbehördlichen Anordnung einhergehende Eingriff ist ausreichend zu begründen, um einer fachaufsichtlichen oder gerichtlichen Überprüfung standzuhalten.

Die Entscheidung für einen Radfahrstreifen auf der Fahrbahn unter Wegnahme einer Kfz-Spur kann nicht ausschließlich nach stadtplanerischen Konzepten oder aufgrund eines Ratsbeschlusses erfolgen. Es sind stets die Voraussetzungen der StVO einzuhalten. Nicht entscheidungsrelevant im Sinne der StVO ist beispielsweise, ob eine komfortablere Verkehrssituation für den Radverkehr durch die Markierung des Radfahrstreifens geschaffen wird.

Für die Anordnung von Radfahrstreifen gelten die Regelungen des § 45 Abs. 1 und Abs. 9 S. 1 und
S. 4 Nr. 3 StVO. Es ist zwar keine qualifizierte Gefahrenlage gemäß § 45 Abs. 9 S. 3 StVO notwendig und diese wurde der Entscheidung des MW auch nicht zugrunde gelegt. Dennoch ist ein zwingendes Erfordernis für einen solchen Radfahrstreifen nachzuweisen. Eine Anordnung kann nur erfolgen, wo die Verkehrssicherheit, die Verkehrsbelastung und/oder der Verkehrsablauf ganz konkret auf eine Gefahrenlage hinweisen. Auch Aspekte der Flächenverfügbarkeit, der Verkehrsstruktur und die Art und Intensität der Umfeldnutzung sind in einer Abwägung zu berücksichtigen (Verwaltungsvorschriften zu § 2 StVO, Rdnr. 17). Zum Beleg des zwingenden Erfordernisses bedarf es einer Tatsachengrundlage, aus der sich das Verkehrsaufkommen, die Zahl der jeweiligen am Verkehr Teilnehmenden, etwaige Verkehrsverstöße oder Unfallzahlen ergeben.

Im fachaufsichtlichen Verfahren, welches bereits Anfang Juli 2021 eingeleitet wurde, wurde die ver-
kehrsbehördliche Anordnung der Stadt Hannover vom 20.10.2020 zur Einrichtung des Radfahrstreifens auf dem Schiffgraben zwischen Lavesstraße und Hinüberstraße auf ihre Rechtmäßigkeit geprüft. In der Begründung zur verkehrsbehördlichen Anordnung wird angeführt, dass der Rad- und Fußverkehr im Bereich der DB-Brücke nicht verkehrssicher geführt werden könne. Nach der Stellungnahme der Polizei ist dieser Abschnitt vor und nach der Anordnung des Radfahrstreifens jedoch unfallunauffällig. Eine Verbesserung der Unfalllage kann somit kein Ziel für die Anordnung des Radfahrstreifens sein, sodass der Begründung der Stadt zu widersprechen ist. Auf mehrmalige Nachfrage konnte die Stadt keine Verkehrszahlen zu den Fußgänger- und Radfahrverkehrsstärken vorlegen, da diese nicht erhoben wurden. Auch ist nicht hinreichend dargelegt worden, warum die bisherige Radverkehrsführung nicht angemessen für eine sichere Verkehrsführung ist. Vermutungen sind nicht ausreichend, um den Voraussetzungen der StVO gerecht zu werden. Es fehlt damit in der verkehrsbehördlichen Anordnung an einer quantifizierbaren Tatsachengrundlage, welche das zwingende Erfordernis nachweist.

Der Radfahrstreifen wurde auf § 45 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 2. HS StVO (Erprobungsklausel) gestützt.
Straßenverkehrsrechtliche Modellprojekte können nicht beliebig initiiert werden, auch hier sind die
Voraussetzungen der StVO einzuhalten. Modellprojekte stellen in der Regel einen Vorher-Nachher-
Vergleich dar. Seitens der Stadt ist jedoch keine Datenlage erhoben worden, welche Unterschiede
verdeutlichen könnte. Die Erprobungsklausel erfordert gemäß § 45 Abs. 9 S. 4 Nr. 7 StVO keine qualifizierte Gefahrenlage nach § 45 Abs. 9 S. 3 StVO. Dennoch ist gemäß § 45 Abs. 9 S. 1 StVO
auch für Erprobungsmaßnahmen ein zwingendes Erfordernis nachzuweisen. Dies konnte seitens der Stadt weder für den Radfahrstreifen noch für das Modellprojekt dargelegt werden. Somit sind auch unter Berücksichtigung der mit der 54. Verordnung zur Änderung straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 20.04.2020 eingeführten erleichterten Erprobungsklausel die Voraussetzungen für ein solches Modellprojekt mit dem derzeitigen Datenstand nicht gegeben. Modellprojekte dienen ausdrücklich nicht dem Zweck, bisher unliebsame straßenverkehrsrechtliche Regelungen zu umgehen.

Die verkehrsbehördliche Anordnung entspricht aufgrund der nicht ausreichenden Begründung nicht
der geltenden Rechtslage, sodass mit Schreiben vom 06.09.2021 die Weisung zur Rücknahme der verkehrsbehördlichen Anordnung sowie zum Rückbau des Radfahrstreifens ergangen ist. Die Wei-sung ist Ausfluss aus dem fachaufsichtlichen Verfahren des MW als Oberste Verkehrsbehörde des Landes Niedersachsen und stellt die rechtmäßige Umsetzung der StVO durch die Stadt her. Da die Stadt mehrmals Gelegenheit bekommen hat, die erforderlichen Daten zu liefern, konnte das Verfahren nicht eher zum Abschluss gebracht werden. Die Stadt hat weiterhin die Möglichkeit, die erforderliche Tatsachengrundlage und somit das zwingende Erfordernis mit Daten zu hinterlegen und die Voraussetzungen für die verschiedenen Arten der Radverkehrsführung zu prüfen sowie eine rechtmäßige verkehrsbehördliche Anordnung zu erlassen. Das MW befindet sich weiterhin in enger Abstimmung mit der Stadt. So wurden weitere Gespräche geführt, um bei der Wahl einer StVO-konformen Radverkehrsführung am Schiffgraben zu beraten.

Das MW spricht sich nicht gegen Radfahrstreifen aus, sondern hat im vorliegenden Fall auf die rechtmäßige Umsetzung der StVO abgestellt. Radfahrstreifen sind eine Führungsform der StVO, die nur unter den oben genannten Voraussetzungen angeordnet werden können.

Das MW setzt sich vielmehr für die Verbesserung der Radinfrastruktur und die Steigerung der Ver-
kehrssicherheit für Radfahrende ein. Mit dem im März dieses Jahres veröffentlichten Fahrradmobili-tätskonzept sollen in den kommenden Jahren knapp 50 verschiedene Maßnahmen in sieben Handlungsfeldern umgesetzt werden. Zu nennen sind hier beispielsweise die Flexibilisierung der Förderung im Rahmen des Niedersächsischen Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes (NGFVG) oder die Bereitstellung von (Förder-)Mitteln des Bundes und des Landes für die Radinfrastruktur in den Jahren 2021 bis 2025 von voraussichtlich über 300 Millionen Euro.

  1. Wie bewertet die Landesregierung die Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Polizeidirektion Hannover zum Pop-up-Radweg an der Straße am Schiffgraben, wonach die „Vorteile für den Rad- und Fußgängerverkehr gegenüber den eher als gering einzuschätzenden Nachteilen für den Kfz-Verkehr“ überwiegen und eine Fortführung der Maßnahme wünschenswert sei und der Anordnung des Niedersächsischen Verkehrsministeriums, diesen Radweg zurückzubauen?

Die Polizeidirektion (PD) Hannover wurde von der Landeshauptstadt Hannover am 14.07.2021 um
eine Stellungnahme und Einschätzung aus polizeilicher Sicht zur Ausweisung eines sogenannten
Pop-up-Radwegs an der Straße Am Schiffgraben gebeten. Daraufhin wurde von der örtlich zustän-
digen Polizeiinspektion Hannover die Verkehrsunfalllage für den betreffenden Bereich ausgewertet.
Dabei wurden keine Auffälligkeiten festgestellt. Weiterhin wurde nach Abstimmung mit dem örtlich
zuständigen Polizeikommissariat Hannover-Mitte die Verkehrssituation vor Ort bewertet. Demnach
wurde beobachtet, dass der eingerichtete Verkehrsversuch eines sogenannten Pop-up-Radweges
an der Straße Am Schiffgraben mögliche Gefahrensituationen zwischen Radfahrenden und Fußgä-gern reduzieren kann. Gleichzeitig wurden, trotz der Reduzierung von zwei auf eine Fahrspur für den motorisierten Verkehr, keine Probleme im Verkehrsfluss festgestellt. Die Einrichtung des Pop-up-Radweges an der Straße Am Schiffgraben wurde daher begrüßt.

Die Auswertung der Unfalllage durch die PD Hannover ist als Tatsachengrundlage in die Entschei-
dung des MW eingeflossen. Nicht entscheidungsrelevant ist dagegen, inwiefern die geänderte Radverkehrsführung nach einer Einschätzung unterschiedliche Vor- oder Nachteile für die am Verkehr Teilnehmenden bringt und eine Fortführung der Maßnahme wünschenswert sei. Nach der geltenden StVO geht es nicht darum, ob eine komfortablere Verkehrssituation für den Radverkehr durch die Markierung des Radfahrstreifens geschaffen wird.

Zudem deckt sich die Aussage der Polizei nicht mit den Erkenntnissen des MW. Mit Hilfe des Ver-
kehrsmanagementsystems „Traffic Information Plattform“ (bekannt unter Verkehrslage in Echtzeit),
das im Rahmen des digitalen Verkehrsmanagements vom MW eingesetzt wird, lässt sich der Verkehr auf Niedersachsens Straßen vom PC aus verfolgen. Danach ergeben sich insbesondere zu den Hauptverkehrszeiten am Schiffgraben immer wieder erhebliche Beeinträchtigungen des Verkehrslusses. Diese lassen sich ebenfalls z. B. auf „GoogleMaps“ nachvollziehen. Die PD Hannover hat ihre Erkenntnisse aus Beobachtungen vor Ort gewonnen.

  • Wie bewertet die Landesregierung die novellierte Straßenverkehrsordnung, nach der unter § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO ein Verkehrsversuch wie der Pop-up-Radweg am Schiffgraben in Hannover vorgesehen ist, ohne dass eine besondere Gefährdungslage nach StVO § 45 Abs. 9 Satz 3 vorliegt, da die „Sonderregelung“ § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 7 StVO greift?

Es wird auf die Vorbemerkung verwiesen. Der Pop-up-Radweg am Schiffgraben stellt keinen Ver-
kehrsversuch gemäß § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO dar. Die Landesregierung bewertet die erleich-
terten Möglichkeiten von zur Erprobung geplanten verkehrssichernden oder verkehrsregelnder Maßnahmen positiv. In Einzelfällen unterstützt die Landesregierung die unteren Verkehrsbehörden bei der ihnen obliegenden Umsetzung von erleichterten Modellversuchen nach § 45 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 StVO.

  • Wann und wo hat das niedersächsische Verkehrsministerium in der Vergangenheit gegenüber Kommunen angeordnet, Radwege zurückzubauen (bitte einzeln nach Jahr, Kommune und juristischer Begründung aufführen)?

Es wird keine Statistik über die Anzahl und Art fachaufsichtlicher Verfahren in der Obersten Ver-
kehrsbehörde geführt. Für eine detailliertere Antwort wären umfangreichere Auswertungen vonnöten. Der dafür erforderliche Aufwand ist innerhalb des für eine kurzfristige Kleine Anfrage zur Verfügung stehenden Zeitrahmens nicht realisierbar.

 

 

 

 

 

 

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