Anfrage zur kurzfristigen Beantwortung:Relativierungen des Holocaust auf sogenannten Corona-Demonstrationen Teil 2
Vorbemerkung der Abgeordneten
Laut Berichterstattung in der Süddeutschen Zeitung kommt es auf Versammlungen, die sich vorder-
gründig gegen die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie richten, sowie im
Internet immer wieder zu Relativierungen der Verbrechen des Nationalsozialismus und insbesondere
zur Relativierung des Holocaust.
In ihrer Antwort (Drucksache 18/10753) auf eine Kleine Anfrage zur kurzfristigen schriftlichen Beant-
wortung gemäß § 46 Abs. 2 GO LT der Abgeordneten Kollenrott (Drucksache 18/10666) teilte die
Landesregierung mit, dass bislang keine Ermittlungsverfahren wegen strafbarer Holocaustrelativie-
rungen im Kontext von Corona-Demonstrationen geführt wurden.
2020 wurden mehrere Fälle der Relativierung des Holocaust auf Corona-Demonstrationen in Han-
nover dokumentiert.1 Auch am 04.09.2021 wurde ein ähnlicher Vorfall dokumentiert.2 Am 01.12.2021
soll laut Chronik des Antifaschistischen Bildungszentrums und Archivs Göttingen e. V. auf einer Ver-
sammlung in Herzberg am Harz auf einem Plakat der SPD-Politiker Karl Lauterbach mit Adolf Hitler
gleichgesetzt worden sein, woneben die Aussage „Juden sollten nur noch Zugang zu ihrem Arbeits-
platz, zu Lebensmittelgeschäften, Drogerien und Apotheken haben. Ungeimpfte sollten nur noch Zu-
gang zu ihrem Arbeitsplatz, zu Lebensmittelgeschäften, Drogerien und Apotheken haben.“ gestan-
den haben soll. Möglicherweise wurde in diesem Fall auch eine Strafanzeige gestellt. 2022 wurden
wegen den Holocaust relativierender Aussagen auf Versammlungen in Göttingen Strafanzeigen ge-
stellt.
1. Sind der Landesregierung bzw. den zuständigen Landesbehörden diese Fälle bekannt,
und wurde jeweils ein Ermittlungsverfahren eingeleitet (bitte begründen, falls nicht)?
Im Rahmen des von den Staatsanwaltschaften verwendeten Fachverfahrens web.sta werden Zu-
satzattribute zur statistischen Erfassung von bestimmten Straftaten auf Demonstrationen gegen die
Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie nicht geführt. Die Benennung einzelner Ermitt-
lungsverfahren würde daher eine händische Auswertung sämtlicher in Betracht kommender Ermitt-
lungsverfahren voraussetzen. Dies ist jedoch im Rahmen der für die Beantwortung einer Kleinen
Anfrage zur kurzfristigen schriftlichen Beantwortung zur Verfügung stehenden Zeit nicht leistbar. Angaben zu diesem Themenfeld können daher entweder nur aus der Erinnerung der zuständigen Dezernentinnen und Dezernenten bei den Staatsanwaltschaften heraus erfolgen oder bei Benennung
einer konkreten Vorfallszeit und des Vorfallsorts anhand des Fachverfahrens recherchiert werden.
Die beiden im Rahmen der Vorbemerkung benannten Vorfälle auf Demonstrationen in Hannover
waren der Staatsanwaltschaft Hannover bislang nicht bekannt. Die Anfrage ist jedoch von der Staats-
anwaltschaft zum Anlass genommen worden, die Polizeidirektion Hannover mit der Durchführung
von Ermittlungen zu beauftragen.
Hinsichtlich des Geschehens in Herzberg am Harz vom 01.12.2021 ist bei der Staatsanwaltschaft
Göttingen ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung gegen Unbekannt geführt worden. Die-
ses ist mangels Ermittlung eines Täters nach § 170 Abs. 2 StPO am 29.12.2021 eingestellt worden.
Zum Zeitpunkt der Beteiligung zu Teil 1 dieser Anfrage war das Verfahren, das aus den vorgenannten
Gründen nicht gesondert statistisch erfasst wird, bei der Staatsanwaltschaft Göttingen nicht erinnerlich.
Anlässlich einer weiteren Versammlung in Herzberg am 16.02.2022 wurde durch die Polizei ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Volksverhetzung im Zusammenhang mit den Holocaust
relativierenden Aussagen eingeleitet. Die Ermittlungen hierzu dauern noch an; eine Abgabe an die
Staatsanwaltschaft Göttingen ist noch nicht erfolgt.
2. Welche konkreten Maßnahmen ergreifen die zuständigen Landespolizeibehörden so-
wohl generell als auch konkret vor einer entsprechenden Versammlung, um den einge-
setzten Polizeibeamtinnen und beamten ein ausreichendes Wissen darüber zu verschaf-
fen, welches Verhalten als Holocaustrelativierung strafbar ist und auf welchen unter-
schiedlichen Wegen Antisemitismus heute ausgedrückt wird?
Mit unmittelbarem Bezug zu Versammlungen gibt es Fortbildungen unterschiedlicher Arten. Die Po-
lizeivollzugskräfte der Einsatzhundertschaften werden im Rahmen regelmäßiger Veranstaltungen zu
strafrechtlich relevanten Sachverhalten geschult. Hierunter fallen auch Delikte aus dem politisch und
religiös motivierten Bereich, so auch Straftaten mit antisemitischem Bezug. Außerdem werden z. B.
Veranstaltungen zur Beweissicherung und Dokumentation von strafbewehrtem Verhalten (Symbolik,
Sprachgebrauch, Gruß- und Zeigeformen) und zu gefahrenabwehrrechtlichen Bild- und Tonaufnahmen im Rahmen von versammlungsrechtlichen Aktionen durchgeführt. Des Weiteren gibt es anlassbezogene Fortbildungsangebote wie aktuell zum Thema „Verschwörungstheorien“ und der polizeilichen Begleitung von coronakritischen Versammlungslagen mit den Themenschwerpunkten „Umgang mit Querdenkern, Antisemitismus, Radikalisierung, antidemokratische Haltung“.
Den Polizeidirektionen und den unteren Versammlungsbehörden wurden - wie bereits in der
Drs. 18/10735 unter Frage 2 erwähnt - im Februar dieses Jahres Hinweise zum Tragen von Zeichen
übermittelt, die an die von den Nationalsozialisten als „Judensterne“ bezeichneten Symbole erinnern.
Diese enthalten Erläuterungen zu einer möglichen Strafbarkeit nach § 130 Abs. 3 StGB und einen
Hinweis auf die Möglichkeit, ein Verbot des Tragens derartiger Zeichen bereits in die Beschränkungs-
verfügung nach § 8 des Niedersächsischen Versammlungsgesetzes aufzunehmen.
Grundsätzlich werden die Einsatzkräfte der niedersächsischen Polizei bereits im Rahmen ihrer Ausbildung über den Antisemitismus und seine Ausprägungen geschult. Während des Bachelorstudiums
an der Polizeiakademie Niedersachsen wird die strafrechtliche Relevanz der Symbolik rechtsextre-
mer Gruppierungen gemäß § 86 a StGB unter Heranziehung vieler Beispiele verdeutlicht. Darüber
hinaus ist § 130 StGB - Volksverhetzung - Gegenstand der Ausbildung. Sowohl die rechtlichen Be-
griffe des Aufstachelns zum Hass, des Aufforderns zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen als auch das
Beschimpfen, böswillige Verächtlichmachen und Verleumden einzelner Gruppen im Zusammenhang
mit Rassismus und Antisemitismus werden erläutert. Auch die „Auschwitzlüge“, die nach § 130 Abs. 3
StGB strafbar ist, ist in diesem Zusammenhang Thema. Weiter wird § 6 VStGB (Völkermord), auf
den § 130 Abs. 3 StGB Bezug nimmt, erklärt. Schließlich werden auch kriminologische Ansätze ver-
mittelt, bei denen auf die unterschiedlichen Phänomene des Antisemitismus eingegangen wird. Da-
bei stehen besonders die ideologischen Hintergründe der Täterinnen und Täter sowie die Frage einer
effektiven Strafverfolgung und Beweissicherung im Vordergrund. Im Rahmen themenbezogener Fortbildungen, auch im Zusammenhang mit Versammlungen, werden
die erworbenen Kenntnisse vertieft. Dabei werden u. a. aktuelle Themen wie gegenwärtig die Dis-
kussion um die Verwendung von Zeichen, die an die von den Nationalsozialisten als „Judensterne“
bezeichneten Symbole erinnern, im Zusammenhang mit Protesten gegen Maßnahmen gegen das
Coronavirus behandelt. Die Polizeiakademie Niedersachsen hat eine über mehrere Wochen regelmäßig stattfindende Veranstaltung „Bewältigung von polizeilichen Einsatzlagen im Zusammenhang
mit der Pandemie“ in Form eines onlinebasierten Erfahrungsaustauschs der Polizeibehörden ins Leben gerufen. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurden unterschiedlichste polizeilich relevante Aspekte thematisiert.
Auch das Landeskriminalamt Niedersachsen bietet entsprechende Informationen an. Die dortige Prä-
ventionsstelle Politisch Motivierte Kriminalität (PPMK) beteiligt sich an der Erarbeitung von Präven-
tionsmaterialien sowie von Aufklärungsmaterial und der Vermittlung von Schutzempfehlungen. Im
Rahmen der Antisemitismusprävention informierte das Landeskriminalamt Niedersachsen die regionalen Polizeibehörden im August 2021 zum „RIAS-Handbuch“. Das Handbuch erläutert und veranschaulicht alle Dimensionen von Antisemitismus anhand antisemitischer Vorfälle und Straftaten.
Durch die Justizministerin wurde am 09.03.2022 ein neuer Leitfaden zum Erkennen antisemitischer
Straftaten vorgestellt. Vornehmliches Ziel des Leitfadens ist es, das Erkennen antisemitischer Zu-
sammenhänge und die Handlungssicherheit von Mitarbeitenden bei Polizei und Justiz, die bislang
wenige Berührungspunkte mit dem Thema Antisemitismus hatten, zu stärken. Dieser Leitfaden wird
auch den niedersächsischen Polizeidienststellen zur Verfügung gestellt.
Konkrete Maßnahmen im Vorfeld versammlungsrechtlicher Aktionen werden anlass- und erkenntnisbezogen ergriffen. Hierzu gehören die fortlaufende Bekanntgabe aktualisierter Lagebilder und die
Thematisierung aktueller Entwicklungen in den konkreten Einsatzbesprechungen. Aktuell werden die
Führungskräfte der Einsatzeinheiten vor versammlungsrechtlichen Aktionen der Corona-Kritiker über
besonders dort auftretende strafrechtlich relevante Sachverhalte informiert. Hier sei exemplarisch
das Tragen der o. g. Zeichen - u. a. mit dem Schriftzug „Ungeimpft“ - genannt. Bei Bedarf werden
auf Versammlungen auch fachkundige Personen eingesetzt, die für die Erkennung strafrechtlich re-
levanter Inhalte von Redebeiträgen geschult sind.
3. In wie vielen Fällen kam es in Niedersachsen seit März 2020 im Zusammenhang mit
Äußerungen im öffentlichen Raum, z. B. auf Flyern oder Stickern, oder im digitalen Raum
zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens und zur Verurteilung wegen Volksverhetzung
(§ 130 StGB) oder anderer Straftaten für die oben genannten Verhaltensweisen oder da-
mit vergleichbares Verhalten (bitte nach Jahren, tatsächlichem Verhalten, Tatvorwürfen
und rechtskräftigen Verurteilungen aufschlüsseln)?
Der objektive Tatbestand der Leugnung des Holocausts nach § 130 Abs. 3 StGB setzt zwingend eine
öffentliche Begehung oder eine entsprechende Handlung in einer Versammlung voraus. Im Fachver-
fahren web.sta werden Zusatzattribute in der statistischen Erfassung von rechtsextremistischen und
fremdenfeindlichen Straftaten für §§ 130, 131 StGB geführt. Danach kam es im Jahr 2020 zur Einleitung von 350 Ermittlungsverfahren und im Jahr 2021 zu 435 Ermittlungsverfahren, jeweils mit dem
Vorwurf § 130 StGB und/oder § 131 StGB. Eine darüber hinaus gehende Eingrenzung ist mangels
statistischer Erfassung im Rahmen des Fachverfahrens web.sta nicht möglich. Eine händische Aus-
wertung sämtlicher Verfahrensakten mit dem Vorwurf der Volksverhetzung ist im Rahmen des für die
Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Verfügung stehenden Zeitrahmens weder leistbar noch zumutbar.