Kleine Anfrage zur kurzfristigen schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung:Reichskriegsflaggen im Schulalltag
Vorbemerkung der Abgeordneten
Wie die taz am 17.02.2021 berichtete, nutzt ein Schüler des 12. Jahrgangs des Lessing-Gymnasiums Uelzen die Reichsflagge mit dem Schriftzug „150 Jahre Reichsgründung“ als Profilbild auf der Plattform „Teams“.
Die Schulleitung des Gymnasiums sei von Schülerinnen und Schülern gebeten worden einzuschreiten, da „mit diesem Profilbild (…) eindeutig Gedankengut vermittelt und mit dem Schriftzug sogar glorifiziert“ wird. Die Schulleitung äußerte zwar Verständnis für den Unmut: „Sie betonen jedoch, dass die Fahne kein ‚verbotenes Symbol‘ sei, und schließen daraus: ‚Wir sind der Meinung, dass eine offene Gesellschaft Provokationen aushalten und Ihnen im Dialog begegnen muss.‘“ Und weiter: „Würden wir als Schule die Verwendung der Reichsflagge als Profilbild verbieten, dann müssten wir alle politischen Anklänge in diesem Rahmen verbieten, z. B. Hinweise auf die Fridays-For-FutureBewegung.“ (https://taz.de/Schueler-provoziert-mit-Reichsflagge/!5752110/)
Vorbemerkung der Landesregierung
Ende Januar 2021 wurde die Schulleitung des Lessing-Gymnasiums Uelzen von Schülerinnen und Schülern des 12. Jahrgangs darauf hingewiesen, dass ein Mitschüler in seinem für die schulische Kommunikation, vor allem im Rahmen des Distanzlernens, genutzten Microsoft Teams-Account ein Profilbild hochgeladen habe, welches ein Bild zeige, auf welchem der Schriftzug „150 Jahre Reichsgründung“, hinterlegt von schwarz-weiß-roten Balken (ohne weitere Zusätze), zu sehen sei. Die abgebildeten Balken ließen in dem verwendeten Kontext „150 Jahre Reichsgründung“ die Assoziation zu der Reichsflagge ab 1892 / Flagge des „Dritten Reichs“ von 1933 bis 1935 zu.
In einem Schreiben vom 24.01.2021 teilte die Schulleitung dem 12. Jahrgang der Schule mit, dass es den Nutzerinnen und Nutzern bei Microsoft Teams möglich sei, ein eigenes Motiv als Profilbild zu wählen, und konstatiert „Irritationen, weil in einem Fall als Motiv die Tatsache gewählt wurde, dass die Gründung des Deutschen Kaiserreichs am 18. Januar genau 150 Jahre zurücklag. Die Feststellung wurde hinterlegt mit den Farben der schwarz-weiß-roten Reichsflagge“.
Weiterhin erklärt die Schulleitung, dass begrüßt werde, dass die Schülerinnen und Schüler „aufmerksam sind gegenüber der Verwendung von möglicherweise unangemessenen oder sogar verbotenen Symbolen und Motiven im schulischen Rahmen. Aber auch wenn die Verwendung der Flagge des Kaiserreichs kaum als Ausdruck eines auf die Zukunft gerichteten Denkens angesehen und stattdessen mit unangenehmen Assoziationen verbunden werden kann (z. B. zur politisch und historisch verwirrten sogenannten ‚Reichsbürger‘-Szene), handelt es sich nicht um ein verbotenes Symbol. Die Flagge des Kaiserreichs ist nicht mit der Reichskriegsflagge oder der Flagge der Nationalsozialisten gleichzusetzen. (…)“.
Am 09.02.2021 erhielt der Schulleiter unter dem Betreff „Umgang mit rechtsradikalem Profilbild auf Schulplattform ‚Teams‘“ eine E-Mail mit einem offenen Brief der Grünen Jugend Uelzen (datiert vom 06.02.2021) und einem Screenshot des Profilbildes. Im E-Mail-Verteiler waren neben dem Koordinatorenteam des Lessing-Gymnasiums auch zahlreiche Medien aufgeführt, u. a. Lokalpresse, Rundfunk, NDR und RTL-Nord. Inhalt des offenen Briefes der Grünen Jugend Uelzen ist der Vorwurf an die Schulleitung, nicht angemessen reagiert zu haben, verbunden mit der Forderung, „dass diese Flagge entfernt wird und weitere Maßnahmen eingeleitet werden. Der § 2 NSchulG (sic.) (Niedersächsisches Schulgesetz) bietet eine gesetzliche Grundlage solch ein Verhalten zu unterbinden.“ Noch am selben Tag nahm der Schulleiter per E-Mail Kontakt zu den Vertreterinnen und Vertretern der Grünen Jugend Uelzen auf und bat um einen Gesprächstermin zwecks Klärung der Angelegenheit. Zudem informierte er umgehend per E-Mail das zuständige Regionale Landesamt für Schule und Bildung (RLSB) Lüneburg.
Nach entsprechender Beratung durch das RLSB Lüneburg entschied die Schulleitung des LessingGymnasiums, sämtliche Profilbilder der Schülerinnen und Schüler zu löschen und vorerst keine weitere Nutzung privater Profilbilder zuzulassen. Derzeit wird an einer neuen Plattform-Nutzungsordnung gearbeitet, die unter Beteiligung der Schulgemeinschaft u. a. einen Kommunikationskodex und Vorgaben zur zukünftigen Verwendung von Profilbildern (z. B. Ausschluss von rassistischen, sexistischen etc. Bildern) enthalten soll. Die Schülerschaft ist dazu aufgerufen worden, Vorschläge einzureichen, die dann in einem gemeinschaftlichen Diskurs erläutert und statuiert werden sollen.
Zudem hat sich die Schulleitung in einem weiteren Schreiben an die Schülerschaft und das Kollegium gewendet und darum gebeten, ihr Vorkommnisse ähnlicher Art, wie z. B. rassistische und verächtliche Äußerungen, anzuzeigen, damit darauf zeitnah und angemessen reagiert werden kann.
1. Ist nach dem Niedersächsischen Schulgesetz ein Verbot derartiger Reichssymbolik im Unterricht und auf den Onlineplattformen des Distanzlernens möglich?
Ja. Die Begründung hierzu ergibt sich aus der Antwort der Landesregierung zu Frage 2.
2. Wie bewertet die Landesregierung den oben beschriebenen Fall?
Die Landesregierung hält das Zeigen der Reichsflagge im unterrichtlichen Kontext für eine nicht akzeptable Provokation. Schule ist in besonderem Maße ein Raum, in dem Verhaltensweisen auftreten und aufeinandertreffen, die den Grenzbereich des gesellschaftlich konsentierten sozialen Zusammenlebens berühren. Die Existenz abweichender Meinungen, das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Weltbilder und in den höheren Jahrgängen auch politischer Streit sind Bestandteile des schulischen Alltags. Der Umgang mit den daraus entstehenden Konflikten stellt einen zentralen Bestandteil des staatlichen Bildungsauftrages dar. Das Akzeptieren anderer Meinungen und Haltungen und das Aushaltenmüssen von Provokationen finden da ihre Grenzen, wo Straftatbestände erfüllt, ein angstfreies Zusammenleben im schulischen Alltag gefährdet oder einzelne Personen oder Gruppen von Ausgrenzung oder Stigmatisierung bedroht sind. Dieses Postulat gilt umfassend. In jeder Schule müssen diese Grenzen so gezogen werden, dass Schule ein Raum bleibt, der frei von politischem oder religiösem Extremismus ist. Maßgeblich für diese Grenzziehung ist der Bildungsauftrag der Schule, der in § 2 Abs. 1 des Niedersächsischen Schulgesetzes (NSchG) verankert ist.
Durch sein Verhalten hat der Schüler zunächst keinen Straftat- oder Ordnungswidrigkeitentatbestand erfüllt. Die in dem oben beschriebenen Fall verwendete Reichsflagge in der Version vor 1935 stammt aus dem Kaiserreich und war ursprünglich kein nationalsozialistisches Symbol. Sie ist zu unterscheiden von der Reichskriegsflagge in der Fassung ab 1935 mit abgebildetem Hakenkreuz. Im Gegensatz zu der Reichskriegsflagge fällt die Reichsflagge in der Version vor 1935 nicht unter den Tatbestand des § 86 a StGB, welcher das Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen unter Strafe stellt (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 13.11.2020, 11 ME 293/20).
Da die Reichsflagge in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch eindeutig in der rechtsextremistischen Szene verankert ist, kann nach einem Erlass des Ministeriums für Inneres und Sport „Hinweise zum Umgang mit dem öffentlichen Zeigen von Reichskriegsflaggen“ vom 01.10.2020 - 22.2-1201/11 - auch beim Zeigen dieser Flagge der Ordnungswidrigkeitentatbestand des § 118 OWiG erfüllt sein, wenn unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Einzelfalls eine konkrete Provokationswirkung gegenüber der Allgemeinheit besteht. Dies ist nach Erlasslage etwa der Fall, wenn die Flagge an einem bestimmten Tag, dem ein in der Gesellschaft eindeutiger Sinngehalt mit gewichtiger Symbolkraft zukommt (wie etwa dem 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus) gehisst wird. Weitere Begleitumstände können vorausgegangene Demonstrationen mit dem Skandieren nationalsozialistischer oder ausländerfeindlicher Parolen sein, sodass dem Zeigen der Fahne eine friedensstörende Wirkung zukommen kann. Zudem kann das Zeigen der Flagge an historischen Orten mit besonderer Symbolkraft die genannte Provokationswirkung begründen (so im Ergebnis auch BVerfG, Beschl. vom 26 01.2001 - 1 BvQ 9/01, Rn. 15).
Soweit der Schüler des Lessing-Gymnasiums Uelzen in seinem Profil zusammen mit dem Schriftzug „150 Jahre Reichsgründung“ Farben verwendet hat, die der Reichsflagge (vor 1935) entsprechen, hat er zunächst auf das historisch belegte Datum der Gründung des Deutschen Reiches am 18.01.1871 hingewiesen. Allein der Hinweis auf ein geschichtliches Datum vermag eine Provokationswirkung im Sinne des o. a. Erlasses des Ministeriums für Inneres und Sport als OWiG-Tatbestand nicht zu begründen und ist als von der Meinungsfreiheit gedeckt anzusehen.
Die freie Meinungsäußerung nach Artikel 5 des Grundgesetzes (GG) genießt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einen besonders hohen Schutz mit der Folge, dass in Zweifelsfällen die freie Meinungsäußerung Vorrang vor anderen Schutzgütern erfährt. Dieser weitgehende Schutz des Artikels 5 Abs. 1 GG muss auch in der Schule gelten, da dies der Ort ist, an dem die Schülerinnen und Schüler den verantwortlichen Umgang mit eigenen Meinungen und den Argumenten anderer einüben sollen.
Dennoch lehnt die Landesregierung das Verwenden bzw. Zeigen von Reichssymbolen in der Schule sowohl im Präsenzunterricht als auch während der Teilnahme am Distanzunterricht ab.
Auch wenn der Schüler durch das Zeigen der Farben der Reichsflagge als Profilbild keinen Straftatoder Ordnungswidrigkeitentatbestand erfüllt hat, können auch Verhaltensweisen, die von der Meinungsfreiheit umfasst sind, im Unterricht unterbunden werden. Die Kultusministerkonferenz hat mit ihrem Beschluss „Zur Stellung des Schülers in der Schule“ vom 25.05.1973 die Pflichten und Rechte der Schülerinnen und Schüler dargelegt. Danach verlangt der Zweck der Schule von allen Beteiligten, dass in planmäßigem Unterricht die Bildungsziele erreicht, die Schüler nicht gefährdet und die Regeln des Zusammenlebens in der Schule eingehalten werden. Dabei ist von Belang, dass der Bildungsauftrag der Schule auch die Erziehung der Schülerinnen und Schüler zur Selbstdisziplin einschließt.
Nach § 2 Abs. 1 Satz 2 NSchG müssen Erziehung und Unterricht dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Niedersächsischen Verfassung entsprechen; die Schule hat die Wertvorstellungen zu vermitteln, die diesen Verfassungen zugrunde liegen. Die Schülerinnen und Schüler sollen zudem fähig werden, die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen, die sich daraus ergebende staatsbürgerliche Verantwortung zu verstehen und zur demokratischen Gestaltung der Gesellschaft beizutragen. Weiterhin sollen sie u. a. fähig werden, nach ethischen Grundsätzen zu handeln. Zwar ist der Bildungsauftrag primär an die Schule und nicht an die Schülerinnen und Schüler adressiert, die Schülerinnen und Schüler haben aber nach § 58 Abs. 1 NSchG das Recht und die Pflicht, an der Erfüllung des Bildungsauftrages mitzuwirken.
Die Reichsflagge steht nicht nur für eine Ablehnung der Grundsätze, auf denen Demokratie und unser gesellschaftliches Zusammenleben beruhen. Die Reichsflagge ist darüber hinaus insbesondere ein beliebtes Erkennungsmerkmal antidemokratischer und verfassungsfeindlicher Strömungen und ein tief in der Tradition des deutschen Rechtsextremismus verwurzeltes Kampfmittel, das Rechtsextremisten verwenden, um gegen die Bundesrepublik Deutschland als demokratischen Rechtsstaat sowie gegen grundlegende Verfassungsgrundsätze wie Demokratie und Republik (Artikel 20 Abs.1 GG) als gemäß Artikel 79 Abs. 3 GG unabänderliche Staatsstrukturprinzipien zu kämpfen.
Das Verwenden der Reichsflagge im unterrichtlichen Kontext überschreitet somit die oben dargestellten sozialen Grenzen des schulischen Zusammenlebens und ist nach § 2 Abs. 1 NSchG aufgrund der dargestellten engen Verknüpfung mit verfassungsfeindlichen Bewegungen unvereinbar mit dem schulischen Bildungsauftrag.
3. Wann und auf welche Weise haben die Schulleitung, das Regionale Landesamt für Schule und Bildung und das Kultusministerium reagiert, bzw. wie planen sie noch zu reagieren?
Auf die Vorbemerkungen der Landesregierung wird verwiesen. Das RLSB berät die Schule in der Angelegenheit. Die Schulleitung hat den betroffenen Schüler mittlerweile zu einem weiteren Gespräch eingeladen, um sein Verhalten aus Sicht von Schule einzuordnen sowie auf mögliche Konsequenzen zukünftigen Verhaltens hinzuweisen. Das Kultusministerium war mit der Angelegenheit bislang nicht befasst. Die Bearbeitung des Vorgangs im RLSB gibt aber seitens des Kultusministeriums auch keinerlei Anlass zur Kritik. Die Reaktion der Schulleitung, mit den Beteiligten das Gespräch zu suchen, das Spannungsfeld zwischen Meinungsfreiheit und Schulfrieden mit den Schülerinnen und Schülern zu thematisieren und die Hinzuziehung des RLSB stellten aus hiesiger Sicht eine vorbildliche Reaktion auf das Geschehen dar.
Zudem sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich das Lessing-Gymnasium in der Vergangenheit, auch in Zusammenarbeit mit der Schülerschaft, eindeutig gegen Rechtsextremismus positioniert und in diesem Bestreben zahlreiche Veranstaltungen durchgeführt hat.