Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung mit Antwort der Landesregierung:Einordnung des Todes von H. L. am 04.06.1991 in die polizeiliche Kriminalstatistik

Anfrage der Abgeordneten Julia Willie Hamburg, Dragos Pancescu und Belit Onay (GRÜNE), ein-gegangen am 05.06.2019 - Drs. 18/3896 an die Staatskanzlei übersandt am 07.06.2019
Antwort des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport namens der Landesregierung
Vorbemerkung der Abgeordneten
Der 39-jährige H. L. wurde am 04.06.1991 von einem 17-jährigen rechten Skinhead in einem Waldstück bei Kästorf (Kreis Gifhorn) erstochen. Der Täter bezeichnete den obdachlosen L. als „Abschaum“. Er wurde zu einer sechsjährigen Jugendstrafe wegen Totschlags verurteilt.1
1. Ist das oben angesprochene Tötungsdelikt in der polizeilichen Statistik als politisch motivierte Kriminalität -rechts- geführt?
Die Fragen 1 und 2 werden zusammenfassend beantwortet.
Zu dem o. a. Fall erfolgte eine Befassung im Rahmen der Beantwortung der Kleinen Anfrage „To-desopfer neonazistischer Gewalt in Niedersachsen seit 1990“ (Drs. 16/4635 vom 15.03.2012). Da-bei wurde bereits dargelegt, dass der Fall im Kriminalpolizeilichen Meldedienst (KPMD) für den polizeilichen Staatsschutz (KPMD-S) nicht erfasst worden war. Aus der Beantwortung ergibt sich au-ßerdem, dass sich Aussagen, ob das Tötungsdelikt unmittelbar nach der Tat in einem polizeilichen Lagebild oder in der „PMK Rechts“ erfasst wurde, nicht mehr treffen ließen.
Mit Wirkung ab dem Jahr 2001 wurde die polizeiliche Statistik zur Politisch motivierten Kriminalität neu gestaltet und fortan auf der Grundlage der Meldungen im Rahmen des eingeführten Kriminal-polizeilichen Meldedienstes Politisch motivierte Kriminalität (KPMD-PMK) nach der Tatzeit ausge-richtet (Eingangsstatistik). Die auf das Jahr 1991 zurückzuführende Tat ist nicht Teil der mit Wirkung zum Jahr 2001 in Kraft getretenen (aktuellen) Statistik für den Bereich der Politisch motivierten Kriminalität; der Täter ist zeitlich vor deren Einführung ermittelt, angeklagt und verurteilt worden.
Gemäß Antwort auf die o. a. Kleine Anfrage LT-Drs. 16/4635 wurde zum o. a. Fall auf der Basis po-lizeilich vorliegender Erkenntnisse dargelegt, dass "[…] sich keine neuen Anhaltspunkte ergeben haben, die auf eine rechtsextremistische Tatmotivation […]" hingewiesen haben.

3. Geht die Landesregierung bei der Tötung von H. L. von Hasskriminalität aus? Wenn ja, welches Tatmotiv und Themenfeld legt die Landesregierung dieser Einordnung zu-grunde?
Die Fragen 3 und 4 werden zusammenfassend beantwortet.
Eine Einordnung der Tat als Hasskriminalität ist durch die Staatsanwaltschaft Hildesheim nicht er-folgt, da dieses Attribut zur damaligen Zeit bei den Staatsanwaltschaften noch nicht als Erfas-sungsmerkmal existierte.
Soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, lässt sich den Urteilsgründen des Urteils des Landge-richts Hildesheim vom 23.12.1991 nicht entnehmen, dass die Tat nach heutigem Stand als Hass-kriminalität einzustufen gewesen wäre. Zugrunde gelegt werden hierbei die Feststellungen des Landgerichts Hildesheim im Urteil vom 23.12.1991, rechtskräftig seit dem 31.12.1991.
Nach den Feststellungen der Kammer war der zur Tatzeit 17 Jahre alte deutsche Täter Anfang 1991 von Ausländern vor einer Diskothek zusammengeschlagen worden. In dieser Zeit fand er Kontakt zu einer Skinhead-Gruppe und wurde im April oder Mai 1991 ein weiteres Mal von einem Ausländer verprügelt. Er entwickelte eine Einstellung gegen Punker und Ausländer und Sympathien für Neonazis. Aus dieser Einstellung heraus trug er gern Springerstiefel mit Metallkappen, Tarnhosen und Bomberjacke. Seiner Umgebung und am Arbeitsplatz fiel er jedoch nicht als aggressiv auf.
Am Nachmittag des 04.06.1991 bekleidete sich der Täter mit seiner Bomberjacke, Springerstiefeln und Tarnhosen, in deren Taschen er einen ca. 40 cm langen Gasschlauch und ein Butterfly-Messer steckte. Er besuchte seinen „Kumpel“, A. S. Gemeinsam fuhren sie mit ihren Mofa gegen 19:00 Uhr von Gifhorn-Gamsen in Richtung Gifhorn-Kästorf, um dort eine ehemalige Freundin des Täters, A. W., zu besuchen.
Auf dem Weg dorthin trafen sie an einem Wäldchen das spätere Opfer, den H. L. Dieser lebte und arbeitete unter betreuerischer Anleitung in den Kästorfer Anstalten. Er hatte – wie üblich – nach Ar-beitsende 4 Flaschen Bier und Zigaretten gekauft, die er zusammen mit einem Transistorradio in einer Plastiktüte trug, um das Bier und die Zigaretten am Wäldchen in Ruhe alleine zu konsumie-ren. Der Täter fragte das spätere Opfer, warum er bei den herrschenden Temperaturen draußen Bier trinke, woraufhin dieser antwortete, dass es ihm schmecke. Anschließend fragte er die jungen Leute nach ihren Mofas und ob sie „auf Platte gingen“. Darauf beschimpfte der Täter das Opfer als Penner, was dieses von sich wies, weil er eine Wohnung hatte. Der Täter erregte sich während des Gesprächs so, dass er das spätere Opfer ins Gesicht schlug, worauf dieses sich mit seiner Plastiktüte entfernte.
Die beiden jungen Männer fuhren dann mit ihren Mofas weiter zu A. W. und unterhielten sich dort mit ihr und ihrem jüngsten Bruder. Dabei kam es zum Streit, bei dem A. W. die beiden jungen Män-ner als dumme Jungs hinstellte. Diese verließen daraufhin kurz nach 20:00 Uhr in etwas gereizter Stimmung die Wohnung der A. W.
Anstatt direkt nach Hause zu fahren, nahmen sie einen Weg, der sie wieder in die Nähe des Wäld-chens führte, wo sie den H. L. zuvor getroffen hatten. Der Täter entdeckte das Opfer, das mit seiner Plastiktüte entlang eines Weizenfeldes ging. Während A. S. zurückblieb, fuhr der Täter im Abstand von etwa 1 m neben dem Opfer her. Dieses fühlte sich dadurch bedroht und schlug mit seiner Plastiktüte um sich, ohne zu treffen. Der Täter stieg daraufhin von seinem Mofa ab und schubste den H. L. Daraus entstand ein Gerangel, in dessen Verlauf der Täter das Opfer mit dem hohlen Gasschlauch schlug und das später am Boden liegende Opfer gegen den Kopf trat.
H. L. gelang es, wieder auf die Beine zu kommen. Er versuchte sich zu verteidigen, indem er dem Täter mit einer abgebrochenen Bierflasche in der Hand drohte. Darüber geriet dieser derart in Zorn, dass er sich nunmehr entschloss, sein Opfer zu töten. Er trat ihm die abgebrochene Flasche aus der Hand und attackierte ihn mit seinem Butterfly-Messer. Das Opfer versuchte zu fliehen, wurde jedoch vom Täter eingeholt und mit mehreren Messerstichen lebensgefährlich verletzt.
Der Täter ließ von seinem Opfer ab und begab sich zu A. S., der sich an der Verfolgung nicht betei-ligt hatte und etwas abseits wartete. Das Opfer verstarb kurze Zeit später infolge zweier tiefer Lungenstichverletzungen.

Das Gericht ging davon aus, dass der Täter „aufgrund seiner psychischen Gesamtsituation in seinem Leben nur eingeschränkt in der Lage ist, eigene Gefühle wahrzunehmen und zu analysieren. Daraus ergibt sich bei ihm eine latente Aggressionsbereitschaft. Bereits der Ärger über die vom Opfer gehaltene zerbrochene Bierflasche reichte aus, den Angeklagten so sehr zu erregen, dass er den Tötungsvorsatz fasste.“
Dass der Täter, wie in der Kleinen Anfrage aus eine Quelle im Internet zitiert, das Opfer als „Abschaum“ bezeichnet habe, geht aus den Urteilsgründen nicht hervor und kann daher nicht bewertet werden.
Als maßgebliches Tatmotiv wird hier im Anschluss an die Feststellungen in dem Urteil des Landgerichts Hildesheim daher der Zorn des Täters über die Gegenwehr des Opfers gerade auch durch das Entgegenhalten der zerbrochenen Bierflasche angesehen.
4. Wenn nein, von welchem Motiv geht sie aus?
Siehe Antwort zu Frage 3.
5. Plant die Landesregierung eine Untersuchung und eventuelle Neubewertung bzw. Neu-einordnung des Falles in der polizeilichen Kriminalstatistik?
Die Fragen 5 und 6 werden zusammenfassend beantwortet.
Eine erneute Befassung der Justiz mit dem Verfahren ist schon aufgrund des Grundsatzes „ne bis in idem“ nicht möglich.
6. Wenn nein, warum nicht?
Siehe Antwort zu Frage 5.

1 www.opferfonds-cura.de/zahlen-und-fakten/erinnerungen/juni/helmut-leja/

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