Antrag: „Demokratie braucht politische Bildung“ - Niedersachsen braucht wieder eine Landeszentrale für politische Bildung!

Fraktion SPD
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Der Landtag wolle beschließen:

Entschließung

Aus den Erfahrungen von Nationalsozialismus und Krieg in Deutschland ist nach der Befreiung im Jahr 1945 ein besonderer Schwerpunkt auf eine demokratische Grundbildung gelegt worden. Schule und Erwachsenenbildung sollten gemeinsam zu Trägern dieses Anspruches werden sowie in Pluralität für die Herausbildung und Stärkung von demokratischen Persönlichkeiten sorgen. Eine besondere Bedeutung kam den Zentralen für politische Bildung zu, die in allen Bundesländern und für den Bund gegründet wurden. Dieser politische Konsens wurde im Jahr 2004 in Niedersachsen durch die Abschaffung der Landeszentrale für politische Bildung unterbrochen.

Aktuelle Herausforderungen, wie zum Beispiel „Pegida“, Islamophobie, die Aufnahme von Geflüchteten, permanent sinkende Wahlbeteiligungen und abnehmende Teilhabe an Prozessen politischer Partizipation, verlangen nach klaren analytischen Aussagen und Austauschforen. Es bedarf einer Einrichtung, die in Niedersachsen politische Bildung unterstützt, koordiniert und Impulse gibt. Diese Einrichtung soll alle Gruppen in unserer Bevölkerung ansprechen, mit verschiedenen Partnerinnen und Partnern zusammenarbeiten und Servicestelle und Ansprechpartner für Institutionen und Einrichtungen sein. Sowohl der vorschulischen und schulischen Bildung als auch der außerschulischen Jugendarbeit und der Erwachsenenbildung in Niedersachsen kommt hier in der politischen Bildung eine gleichermaßen wichtige Rolle zu. Die bestehenden Angebote sowie Anbieterinnen und Anbieter zu koordinieren, Bedarfe zu erkennen und Hilfen sowie Angebote zur Verfügung zu stellen, ist gerade vor den aktuellen Anforderungen von zentraler Bedeutung.

Auch dem Bereich der Medien kommt in der heutigen Zeit bei der politischen Bildung eine entscheidende Rolle zu. Gerade vor dem Hintergrund einer zunehmenden Nutzung sozialer Netzwerke ist die politische Bildung hier gefragt sich weiterzuentwickeln. Dort müssen neue Formen der Partizipation erprobt werden, um insbesondere die jüngere Generation in Bezug auf ihre gesellschaftliche Verantwortung zu erreichen.

Die Aufarbeitung dieser Probleme und damit die Vermittlung einer demokratischen Grundbildung und demokratischer Werte sollte einer unabhängigen Institution anvertraut werden, die eben durch ihre Unabhängigkeit Akzeptanz erhält.

Der Niedersächsische Landtag stellt fest:

  1. Die Abschaffung der Landeszentrale für politische Bildung in Niedersachsen im Jahr 2004 durch die damalige CDU/FDP-Landesregierung war ein schwerwiegender politischer Fehler. Dies gilt auch für die Abgabe von Aufgaben der ehemaligen Landeszentrale an den Verfassungsschutz.
  2. Nach der Schließung wurden viele Aufgaben der Landeszentrale nicht von anderen Institutionen kompensiert. Es entstanden Lücken, die nicht durch neue Angebote gefüllt werden konnten. Der Dank gilt allen Beteiligten, die sich nach der Abschaffung der Landeszentrale weiterhin unter erschwerten Bedingungen für politische Bildung in Niedersachsen engagiert haben.
  3. Niedersachsen braucht eine unabhängige Institution, die zielgruppengerecht und niedrigschwellig arbeitet und kommuniziert, um Menschen für demokratische Prozesse zu begeistern, ihnen Wege der politischen Partizipation zu eröffnen und sie zur Teilhabe an einem gesellschaftlichen Diskurs über akute politische Herausforderungen zu befähigen und zu ermutigen.
  4. Niedersachsen braucht eine Institution, die eine Unterstützung von Schulen, der Erwachsenenbildung, zivilgesellschaftlichen Initiativen und Ehrenamtlichen sicherstellt.
  5. Niedersachen braucht eine neue Landeszentrale für politische Bildung, die die Arbeit in diesem Bereich landesweit koordiniert.

Der Landtag fordert die Niedersächsische Landesregierung auf:

  1. Die geplante Koordinierungsstelle für politische Bildung in eine eigenständige und unabhängige Landeszentrale für politische Bildung für Niedersachsen weiterzuentwickeln, die alle Trägerinnen und Träger sowie Zielgruppen der politischen Bildung erreicht.
  2. Eine Landeszentrale für politische Bildung in Niedersachsen einzurichten, die in Kooperation mit Dritten durch Publikationen, Veranstaltungsreihen, Austauschmöglichkeiten und Beratung Trends aufzeigt, eigene inhaltliche Akzente setzt und Diskussionen zusammenführt.
    Eine größtmögliche Vernetzung von Akteuren aus Wissenschaft, Gewerkschaften, Erwachsenenbildung, Zivilgesellschaft sowie Religionsgemeinschaften ist dabei anzustreben. Schwerpunkte der inhaltlichen Arbeit können zum Beispiel die Aktivierung von Menschen für politische Prozesse, Bürgerbeteiligung, Eine-Welt-Politik, Kommunalpolitik, landesspezifische Entwicklungen und Gegebenheiten Niedersachsens, Wegweiser für gesellschaftspolitisches Engagement, Integration von Geflüchteten oder die Befassung mit demokratiefeindlichen Bestrebungen sein. Als besondere Querschnittsaufgabe in allen Politikfeldern besteht die Herausforderung, die Zustimmung zum Integrationsprojekt Europäische Union zu stärken und die Diskussion über eine konstruktive Weiterentwicklung dieses Projektes zu intensivieren sowie den Europäischen Gedanken zu fördern. Die Stärkung der Medienkompetenz soll sich in den Angeboten als Querschnittsthema wiederfinden.
    Zielgruppe einer Landeszentrale für politische Bildung können neben Schulen, der Jugendbildung, freien Trägern der außerschulischen politischen Bildung und der Erwachsenenbildung, Kommunen und zivilgesellschaftlichen Initiativen und Vereinen auch Privatpersonen sein.
  3. Im Haushalt dauerhaft hinreichende Mittel für eine Landeszentrale für politische Bildung zur Verfügung zu stellen. Bei der Einrichtung sollen Doppelstrukturen in der Landesverwaltung vermieden und Synergien genutzt werden.
    Die Landeszentrale soll eng mit der Stiftung Gedenkstätten und der Agentur für Erwachsenenbildung zusammenarbeiten. Die Landeszentrale nimmt im bundesweiten Kontext die niedersächsische Außenvertretung im Rahmen der Landeszentralen für Politische Bildung wahr.
  4. Eine enge Zusammenarbeit mit der wissenschaftlichen Dokumentationsstelle zur Analyse und Bewertung von Demokratiefeindlichkeit und politisch motivierter Gewaltbereitschaft ist anzustreben. Die wissenschaftliche Arbeit zu den Phänomenbereichen und Vernetzung zu zivilgesellschaftlichen Initiativen können ein Baustein für eine inhaltliche Kooperation sein.
  5. Die Angebote der Landeszentrale sollen dezentral in Niedersachsen in allen Landesteilen und auch im Internet initiiert werden. Ein Konzept für Lernorte in Niedersachsen ist zu entwickeln.
  6. Eine enge Kooperation der Landeszentrale mit den Schulen, der außerschulischen Jugendarbeit, den Einrichtungen der Erwachsenenbildung, die in der politischen Bildung aktiv sind, sowie den Hochschulen, Universitäten und den zivilgesellschaftlichen Akteuren sicherzustellen.
  7. Mit einem Kuratorium für die Landeszentrale die Einbindung des Niedersächsischen Landtags, wissenschaftlicher Einrichtungen, Einrichtungen der Erwachsenenbildung und Vertreterinnen und Vertretern der Zivilgesellschaft zu gewährleisten. Es soll mit Überparteilichkeit und Unabhängigkeit von der jeweils aktuell gebildeten Regierung gearbeitet werden.

Begründung

Am 1. September 1954 wurde in Niedersachsen die Landeszentrale für Heimatdienst gegründet, aus der später die Landeszentrale für Politische Bildung hervorgegangen ist. Geprägt von den schmerzhaften Erfahrungen des Nationalsozialismus sollten die Voraussetzungen für eine wehrhafte Demokratie unter dem Leitmotto „Demokratie braucht Demokraten“ geschaffen werden. Friedrich Ebert hatte als erster Reichspräsident der Weimarer Republik mit diesen prägnanten Worten die notwendige Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Demokratie deutlich gemacht.

Über mehrere Jahrzehnte wurde in der Landeszentrale für politische Bildung wertvolle Arbeit für das Land geleistet. Es wurden politische Bildungsangebote für hunderttausende Niedersachsen gemacht. Sie war über alle Parteiengrenzen hinweg ein akzeptiertes Instrument für Demokratie, Teilhabe und Bürgerbeteiligung.

In allen westdeutschen Bundesländern entstanden nach 1945 Landeszentralen und am 25. November 1952 wurde die Bundeszentrale gegründet. Nach 1990 wurden in allen neuen Bundesländern Landeszentralen für politische Bildung eingerichtet.

Die Abschaffung der Landeszentrale für politische Bildung in Niedersachsen war eine tiefe Zäsur der Ignoranz dieser Leistung und wurde massiv von Gewerkschaften, Bildungsverbänden, Schulen und der Bevölkerung kritisiert. Die Schließung nahm der Landeszentrale die Chance auf eine notwendige Reform, die durchaus angebracht gewesen wäre. Die Schließung hinterließ eine Lücke, die mit keiner Übergangslösung vollständig geschlossen werden konnte.

Niedersachsen hat als einziges Bundesland die eigene Landeszentrale für politische Bildung abgeschafft. Die damalige schwarz-gelbe Landesregierung hat zum 31.12.2004 unter dem damaligen Ministerpräsidenten Christian Wulf und dem Kultusminister Bernd Busemann die Schließung durchgesetzt, um finanzielle Einsparungen umzusetzen und im Jahr 2013 einen ausgeglichenen Landeshaushalt vorlegen zu können. Die Schließung sollte einen Effekt von jährlich 1,6 Millionen Euro erbringen.

Das deutliche Signal der Schließung durch die damalige Mehrheit im Niedersächsischen Landtag war: „Wir wollen keine Landeszentrale für politische Bildung.“ Die finanziellen Aspekte waren scheinbar nur vorgeschoben.

"Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: Keine Bildung." John F. Kennedy

Dem Weg Niedersachsens ist kein weiteres Bundesland gefolgt. In Deutschland gibt es eine Bundeszentrale für politische Bildung und von 16 Bundesländern unterhalten 15 aus voller Überzeugung eine Landeszentrale für politische Bildung.

Demokratie muss immer wieder neu gelernt werden. Demokratiemüdigkeit und demokratiefeindliche Grundhaltungen prägen immer häufiger auch die Mitte der Gesellschaft. Die Digitalisierung schafft „neue soziale Lebenswelten“, ermöglicht aber auch neue Formen der Partizipation. Die aktuellen politischen Probleme machen es notwendig, in Niedersachsen wieder eine zentrale Plattform für Fragen der politischen Bildung zu etablieren, in der alle Träger der politischen Bildung von der Schule über die freien Träger der außerschulischen Bildung bis zu den Universitäten und Hochschulen sowie interessierte Bevölkerung eine Informations- und Anregungsstelle haben. Es geht darum, eine professionell qualifizierte Einrichtung zu etablieren, die Koordination, Information und aktuelle Initiativen für eine demokratische politische Bildung repräsentiert. Es geht auch um die Identifizierung von Problemen, durch deren analytische Bearbeitung demokratische Lösungen befördert werden. Diese sind beispielhaft:

  • Legitimationsprobleme demokratischer Institutionen,
  • die Abstinenz bei Wahlen und politischer Partizipation,
  • der Bedeutungsverlust demokratisch legitimierter Durchsetzungskraft bei Finanz- und Wirtschaftsproblemen,
  • die Herausforderungen durch von ökologischen, politischen und wirtschaftlichen Notlagen bedingten Flüchtlingsströmen,
  • Gleichgültigkeit und Schlussstrich-Mentalität gegenüber der deutschen Vergangenheit,
  • schwindende Akzeptanz internationaler Einrichtungen,
  • die zunehmende Skepsis gegenüber dem Friedensprojekt Europa,
  • die wachsende Bedeutung religiöser Argumentation in politischen Kontexten,
  • die Gefährdung des Rechts auf „informationelle Selbstbestimmung“,
  • der internationale Terror und die Bedrohung des Friedens,
  • die zunehmende Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen durch Klimawandel, wachsender Weltbevölkerung und die global ungerechte Ressourcennutzung und Verteilung der Wertschöpfungen,
  • die Internationalen kriegerischen Auseinandersetzungen (Nahost, Ukraine),
  • die wachsende nationale und internationale Ungerechtigkeit der Vermögensverhältnisse,
  • die Einordnung von Unmutsbekundungen in den politischen Kontext,
  • heterosexuelle Diskriminierung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt von lesbisch, schwulen, bisexuellen, transgender, transsexuellen, intersexuellen und queeren Menschen (LSBTTIQ),
  • die Einordnung medialer Berichterstattung zu politischen Ereignissen und Themen,
  • neue Formen populistischer, nationalistischer und rechtsradikaler Bewegungen und
  • Bedrohung von Grundwerten und Sicherheit durch wachsenden Salafismus.

Niedersachsen wird nun die Chance für einen Neuanfang nutzen und eine Landeszentrale für politische Bildung aufbauen, die Erfahrungen anderer Bundesländer berücksichtigt und gleichzeitig neue Entwicklungen aufnimmt. Inhalte und Methoden politischer Bildung haben sich verändert. Ein starkes Angebot im Internet, neue Formen politischer Didaktik und eine veränderte inhaltliche Ausrichtung sind möglich und erforderlich.

Auch der politische Anspruch an eine solche Institution hat sich verändert. Unabhängig von politischen Mehrheiten muss eine Landeszentrale künftig langfristig agieren können. Flache Hierarchien, wenig Verwaltungsaufwand und ein lernendes Konzept mit Option auf Weiterentwicklung müssen die Zukunft bestimmen.

Die politische Bildung in Deutschland hat immer wieder eigenes Handeln hinterfragt und Konzepte neu ausgerichtet. Der „Beutelsbacher Konsens“ aus dem Herbst 1976 hat die Grundsätze für politische Bildung mit den Prinzipien Überwältigungsverbot, Kontroversität und Schülerorientierung festgelegt.

Im „Münchner Manifest“ vom 26. Mai 1997 haben die Bundeszentrale für politische Bildung und die Landeszentralen für politische Bildung unter dem Titel „Demokratie braucht politische Bildung“ den Auftrag an sich selbst formuliert. Sie wollen das demokratische und politische Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger stärken und ihre aktive Beteiligung am politischen Leben fördern. Dabei haben sie sich als Leitziele Überparteilichkeit und Objektivität gesetzt.

Eine Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung wird sich immer wieder weiterentwickeln und hinterfragen müssen. Nur so kann sie gesellschaftspolitische Akzente setzen und als kompetente Ansprechinstitution empfunden werden.

Die Einrichtung der Landeszentrale für politische Bildung und die Erwartungshaltung an Qualität setzen eine gute personelle und sachliche Ausstattung voraus. Ziel ist eine arbeitsfähige Einheit, die durch eigene Expertise und wissenschaftliche Vernetzungsarbeit Impulsgeber, Servicestelle und Ansprechpartner für alle Akteure im Bereich der politischen Bildung in Niedersachsen ist. Die Angebote sollen dezentral in Niedersachsen stattfinden und dabei vorhandene Strukturen, wie zum Beispiel die Heimvolkshochschulen, integrieren.

Auch die Organisation von Bildungsarbeit gegen verfassungsfeindliche Bestrebungen ist in Zukunft außerhalb des Niedersächsischen Verfassungsschutzes bei einer Landeszentrale zu bündeln. Die wissenschaftliche Dokumentationsstelle kann eine gute Bereicherung einer Landeszentrale sein und diese um wissenschaftliche Arbeit in den Phänomenbereichen ergänzen. In Zeiten von „Pegida“ und Salafismus wird das Fehlen einer eigenen Landeszentrale in Niedersachsen besonders deutlich. Es gehört nicht zu den Aufgaben eines Nachrichtendienstes in Schulen und weiteren Bildungseinrichtungen einen gesellschaftlichen Bildungsauftrag zu übernehmen.

Niedersachsen braucht nach 11 Jahren endlich wieder eine Landeszentrale für politische Bildung!

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